Hallorenkugeln

Ich habe es eilig, es ist der 23. Dezember, Ikea hat trotz Sonntag heute geöffnet und ich gehöre zu den anderen 2 Millionen Irren die heute hier ihre Weihnachtsgeschenke einkaufen wollen oder müssen oder irgendwie nicht anders können. Ich weiß noch nicht einmal genau was ich eigentlich brauche oder suche aber bei Ikea, so dachte ich mir, werde ich sicherlich noch alle bisher ungeklärten Geschenkfälle lösen können. Bisher hat es auch ganz gut geklappt, ich habe schon einiges in meinen Wagen geladen: Kissenhüllen, Bilderrahmen, Teelichter natürlich, eine kleine Tischlampe vielleicht für Maren, jede Menge Servietten – die ich zur Not auch selber gebrauchen könnte, Geschenkpapierreste, Bändchen, Schleifen, zwei Holzschalen für Susi, einen Papierkorb für Jan und diverse Kuscheltiere für die Kinder und für mich. Ich bin in dem Gewühl bisher gut vorangekommen, und nun - - - - ein Menschen- und Einkaufswagenchaos in der Glasabteilung. Auch ich lasse meinen Wagen erstmal stehen und ergattere hübsche Espressotassen, nehme gleich 8 Stück – könnte ich ja vielleicht auch welche selber behalten und dränge dann auch zu dem Menschenauflauf, wo es scheinbar die ultimativen Weihnachtsgeschenke gibt. Ich schiebe mich mit freundlichem ‚Tschuldigung’ an einigen Leuten vorbei, und schaffe es tatsächlich bis in die erste Reihe. Vor mir steht eine Frau, tief gebückt über einem Holzcontainer und befördert scheußliche buntschillernde Glasvasen daraus hervor, die ihr aus der Hand genommen werden, noch bevor sie in einem Regal landen. Die Vasen sehen einfach schrecklich aus, so eine will ich bestimmt nicht. Die Leute hier müssen regelrecht verzweifelt sein wenn sie so was zu Weihnachten verschenken. Ich sehe und rieche plötzlich die Holzwolle, die aus dem Holzkasten quillt, und bin verwundert, dass irgendjemand noch mit echter Holzwolle verpackt. Aha, Made in China – Holzwolle aus China - sieht genauso aus und vor allem riecht sie genauso wie die Holzwolle in meiner Kindheit. Bevor ich mich energisch aus der ersten Reihe zurückziehe greife ich mir eine Handvoll von dem wundervollen Gewirr, drängele rücksichtslos auf den Gang zurück, suche meinen Einkaufswagen und rangiere ihn aus dem Chaos. Finde noch eine schöne schlichte Glasvasen, rotkarierte Küchentücher und bei den Pflanzen, bei denen es schon ein bisschen nach Plünderung aussieht, 3 schon leicht ramponierte Weihnachtssterne und eine letzte, ganz akzeptable Palme. Vor den Kassen unendlich lange Schlangen, die bis in die Lagerhalle reichen. Kein Land in Sicht, keine Wahl – durchhalten - morgen ist Weihnachten. Die Holzwolle raschelt in meiner Hand, ich spüre diese feine Kratzen und Pieksen und immer wieder rieche ich daran. Es riecht nicht wirklich nach frischem Holz aber auch nicht muffig, es riecht eben wie……. wie Holzwolle. Es erinnert mich an die Pakete, die unsere Verwandten uns aus dem Osten immer schickte. Meine Eltern waren 1961 – kurz vor dem Mauerbau in den Westen geflüchtet Im Gepäck hatten sie zwei kleine Kinder, einen Koffer mit Babywindeln und Wäsche, einen Kinderwagen und sonst nichts. Zurück ließen sie ein freundliches Zweifamilienhaus im Grünen und viele Verwandte. Die Ankunft im Ruhrgebiet war für meine Eltern grau, einsam und arm. Zwar wurden die Flüchtlinge mit dem Allernötigsten ausgestattet, aber eben nur mit dem Allernötigsten. Und obwohl mein Vater sofort Arbeit bekam war die Wohnung eher spärlich möbliert, die Kleidung gebraucht und meine Mutter musste sparsam haushalten. Recht schnell schickten die Verwandten von „drüben" Pakete. Von Ost nach West! Es waren wunderbare Pakete, eingehüllt in dickes weiches braunes Einwickelpapier, mit einer dicken Schnur fest zusammengebunden. Innen ein Pappkarton und dann erstmal Holzwolle. Viel Holzwolle. Die Pakete enthielten einfach Haushaltsgegenstände, und natürlich Kunsthandwerkliches wie Brötchenkörbe, Emailleschälchen und bestickte Tischdecken und meistens auch was für uns Kinder. Zu Weihnachten immer Dresdner Christstollen und Engelchen aus dem Erzgebirge, eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn und selbstgestrickte Schals für alle. Tante Friedel aber schickte immer ganz besondere Pakete. Ihre Pakete kamen nie zu Weihnachten oder zu den Geburtstagen, sie kamen immer irgendwann. Noch bevor ich lesen konnte erkannte ich an der großen, dicken Schrift ihre Päckchen. Sie schickte keine Gebrauchsgegenstände, - in ihren Paketen gab es kleine Päckchen, extra noch in knisterndes mattbuntes Papier eingewickelt, mit dünnen Bändchen zugebunden für meine Schwester und mich. Kleine Schildchen hingen daran, mit Buntstift waren unsere Namen draufgeschrieben. Spielzeug, Bücher, Bastelsachen, Puppenkleider, Plüschtiere, Schokolade und immer - sehr viel Holzwolle. Obenauf lagen meistens Bogen mit Abziehbildern: Blumen, Tiere, Märchenfiguren und das Sandmännchen. Die Schokolade schmeckte zwar nicht wie im Westen, die Verpackungen waren irgendwie gräulich und manche Bilderbücher hatten russische Titel – aber all das störte überhaupt nicht – es war immer wie Weihnachten wenn die Pakete von Tante Friedel kamen. Ich kannte diese Tante Friedel nicht, das Reisen zwischen Ost und West war noch nicht möglich und ich stellte sie mir immer als eine strahlend, schöne blonde Fee vor mit hochtoupierten Haaren und lackierten Fingernägeln. Irgendwann schickte sie in einem Brief ein Foto mit und ich war maßlos enttäuscht. Es zeigte eine ältere, ernst dreinschauende Frau mit einem Hut auf einem Hinterhof - und es war nicht mal ein Farbfoto. Später, als sie Rentnerin war und endlich zu uns reisen konnte, habe ich meine Tante Friedel kennengelernt, und da war sie dann in Farbe, obwohl ihre Haare schon schlohweiß waren. Eine wunderbare, lustige und warmherzige Frau, die die schönsten Geschichten erzählen konnte, viel lachte und immer mein liebster Ostbesuch war. Und manchmal und ich glaube dann war wirklich Weihnachten gab es Hallorenkugeln in ihren Paketen, die ersten Pralinen meines Lebens. Und vielleicht sollte ich den vollgepackten Wagen jetzt hier einfach stehen lassen, Ikea Ikea sein lassen, keine Lampen, Vasen und Palmen verschenken, sondern morgen bei Karstadt zehn Packungen Hallorenkugeln kaufen, diese Geschichte aufschreiben und all den mir lieben Menschen damit eine schönes Weihnachtsfest wünschen.

Gesine Wenzel, 2008

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