Spuren

Sie holte gerade den Rest Rote Grütze vom Mittag aus dem Kühlschrank als er ihr mit ernster und bedrückter Stimme erklärte, dass er nach all der Zeit doch zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgehen würde. Noch heute Abend. Die Schüssel rutschte ihr aus der Hand, zersplitterte auf dem Holzboden, die Rote Grütze breitete sich um ihre Füße aus und das Leben glitt unter ihr hinweg. Sie hatte es die ganze Zeit kommen sehen, eine Ahnung gehabt. Seine Sachen hatte er bereits gepackt, der Abschied war leise und traurig, wie auch ihr Leben eine lange Zeit danach. Dieses Gefühl, dass nicht mehr zu wollen, diese Schmerzen nicht mehr zulassen wollen, nicht mehr auf die Füße zu kommen, kein Lichtblick - nirgends - hielt lange an.

Viele Jahre später ging sie noch ein letztes Mal durch ihre leere Wohnung.Im Flur lehnte noch ein Besen an der Wand, daneben Handfeger und Kehrblech, 2 Taschen mit dem allerletzten Rest und ihr kleiner Koffer. An den Wänden rechteckige, dunkle Ränder von den Kinderbildern, die nun in Umzugskisten von Nord nach Süd unterwegs waren. Die Bilder, lange schon verblichen, krakelige, bunte Kinderzeichnungen mit schiefen Figuren einer blass gelben Sonne, einem Baum im Schnee, hatten all die Jahre hier im Flur gehangen. Die Kinder waren nun schon lange nicht mehr hier, Jannie studierte in Leipzig, die Kleine hatte ihre Ausbildung beendet und arbeitet nun erstmal in Spanien in einer großen Ferienanlage.

Im Bad, das kleine Fenster mit Blick auf die Kastanie. Wie oft hatte sie abends nachdem endlich Ruhe nach einem langen, anstrengenden Tag eingekehrt war in der Wanne gelegen und durch das kleine Fenster auf die Kastanie geschaut. Jetzt waren die Blätter gerade ganz frisch und saftig grün, so dass das ganze Bad in ein mildes grünliches Licht getaucht wurde. Sie kannte jede Jahreszeit an dieser Kastanie und erinnerte sich an einen strengen Winter, wo die kahlen Äste ringsherum dick bereift waren.

Die Abstellkammer - ja alles raus. Das war das schlimmste gewesen. Wie viel Zeug kann sich eigentlich auf 2 Quadratmetern ansammeln. Beim Ausräumen schien sich das ganze Familienleben um sie herum auszubreiten. Kinderskier, Luftmatratzen, die blaue Kühltasche, ein Karton mit Kinderbüchern, eine Kiste mit Weihnachtsschmuck, Plastiktüten mit alter Bettwäsche, Stoffresten und abgewetzten Plüschtieren die längst ausgekuschelt hatten.

Jannies Zimmer, hier hatte ihre Ältere pubertäre Wutanfälle bekommen, sich einmal sogar für mehrere Tage eingeschlossen, laute Musik gehört, irgendwann einfach alles verweigert, Schule geschwänzt, und schließlich nach endlosen Diskussionen doch fürs Abitur gebüffelt. Reißzwecken in den Wänden, die Tür mit Graffiti besprüht, Brandflecke auf dem Fensterbrett. Auf der Fensterscheibe ein verwischtes kleines rotes Herz.

Im Zimmer ihrer Jüngsten immer noch die bunten Wände, an der Decke sonnengelbe Streifen. Hier hatte sie sich ruhig aber farbenfroh in andere Welten geträumt, Klavier gespielt, viel gelesen. Ein rotes Klavier musste es sein. An der Decke noch die Papierlampe aus Thailand. 

Das Schlafzimmer mit dem schönen Stuck an der Decke. Immer hin und her gerissen zwischen Wäschetrockner, Bügelbrett und romantischem Kerzenlichtermeer. Mein Gott, wie oft hatte sie ruckzuck den Alltag im großen Schrank verschwinden lassen. Der Schrank mit dem großen Spiegel. Jannie hatte vor Jahren in einem Wutanfall dagegen getreten, seitdem hatte der Spiegel einen großen Sprung von oben bis unten. In der Fußleiste steckte noch ein kleiner Papierschnipsel : …ich leb in Euch und geh’ durch Eure Träume….das hatte sie irgendwann mal aus einer Zeitung rausgerissen, leider fehlte der Anfang und sie konnte sich auch nicht mehr an ihn erinnern. Sie steckte den Zettel in ihre Jackentasche.

Im Wohnzimmer der alte Kachelofen in der Ecke, den sie im Winter manchmal noch angefeuert hatte, allein wegen der gemütlichen, behaglichen Wärme. Viele leere Bilderflecken an den Wänden, eine nackte Glühbirne die von der Decke baumelt. In der Ecke der alte Ohrensessel, völlig abgeschabte Armlehnen. Als die Kinder kleiner waren hatten sie oft zu dritt darauf gesessen und sie hatte Geschichten vorgelesen. Später hatten die beiden immer darauf rumgetobt, und erst als beide Mädchen größer wurden hatte sie den Sessel wieder für sich alleine.

In der Küche stand noch der große runde Holztisch mit den alten Stühlen ringsherum, den die Nachmieter auch gerne übernehmen wollten. Ihre neue Wohnung war doch um einiges kleiner, leider keine Wohnküche mehr, dafür endlich ein schöner großer Balkon auf den sie sich schon sehr freute. Der Tisch war immer der Mittelpunkt des Familienlebens gewesen. Die Kinder hatten ihre Schularbeiten daran gemacht, Kindergeburtstage gefeiert, Plätzchen ausgestochen, Fensterbilder ausgeschnitten und sich bei „Mensch ärger Dich nicht" doch geärgert. Sie selbst hatte mit Freunden daran in gemütlichen Runden gesessen, bis in die Nächte hinein mit ihrer Freundin bei – manchmal zuviel - Wein über alte und verflossene aber am liebsten über neue Lieben geredet, erzählt, getröstet, gelacht, geweint, gesungen und gespielt.

Auf dem Holzboden vor dem Kühlschrank schon lange ein Fleck, rot und verblasst.

Gesine Wenzel, 2007

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