Yorkstrasse – ein Spaziergang am Meer

 

im Auto vor ihm malt sich eine Frau die Lippen an

hinter ihm telefonierte der Fahrer

er muss sich unbedingt um seinen neuen Handyvertrag kümmern

40.000 T-Shirts mit falschen Etiketten

Siewert, klären sie das

wie sollte er das denn Freitagnachmittag klären

schon wieder rot

immer nur 3 Autos rüber

vor ihm noch mindestens …

vielleicht bei der 3. Ampelphase….

Freitagnachmittag klären

Freitagnachmittag ist hier immer Stau

eigentlich ist hier IMMER Stau

40.000 T-Shirts

die Leute haben ja keine Vorstellung

im Auto nebenan ein Paar

streitend

der Scheibenwischer schmiert

an der S-Bahn Brücke über ihm:

Sie stehen nicht im Stau – Sie sind der Stau

jeden Tag das gleiche

die Frau nebenan weint

heute Abend zu hause das Familientreffen

Susa sicherlich schon genervt, wo er bleibt

die Frau vor ihm pudert sich das Gesicht

die Frau nebenan putzt sich die Nase

Margit und Frank streiten auch immer

Jetzt quietscht der Scheibenwischer auch noch

gleich als erstes am Montag muss er in Tschechien anrufen

schon wieder rot

muss Havlek wegen den Etiketten erreichen

ein Motorradfahrer unter der Brücke

oben ausgebeulte Drähte, Tauben

Dreck

überall Dreck

Ruhe, endlich mal Ruhe haben

Beine ausstrecken, Sportschau gucken

spielt Hertha Morgen in zuhause?

und Stuttgart,  und Bremen?

die Etiketten, ausgerechnet in Tschechien

Sahne –mein Gott Sahne

Sahne kaufen

am besten bei Reichelt, Parkplatz auf dem Hof

auch das noch….

nun fahr schon

na endlich

ein Mann mit Hund

unser Felix ist schon seit 20 Jahren tot

1980

das sind ja schon 29 Jahre

schon wieder rot

29 Jahre

vielleicht mal Mertens ansprechen

vielleicht Montag zusammen Mittagessen

40.000 falsche Etiketten

nur Sahne?

die ganze Sippe heute Abend

nie Ruhe

die Steuerformulare….

wie spät ist es?

der Tank noch halb…..

voll oder leer

der Tank noch halbvoll- er halbleer

Halbzeit?

längst überschritten

Esso vor Reichelt

 

Er steigt neben der Tanksäule aus, nimmt den Schlauch und steckt ihn in die Tanköffnung, stellte auf Automatik, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander und riecht an seiner Hand. Er riecht das Diesel an den Fingern, beugt sich leicht über die Tanköffnung und saugt den ausströmenden Geruch tief ein. Er bezahlt an der Kasse, fährt auf den Platz neben dem Staubsauger, stellt den Sitz ein bisschen nach hinten, lehnt sich entspannt zurück, zieht seine Krawatte auf, schließt die Augen und geht los:

 

Langsam geht er den steinigen Trampelpfad entlang. Bei jedem Schritt knirschen die rötlichen Steinchen, ab und zu knackt ein trockener Zweig unter seinen Füßen. Links neben ihm die knochigen bizarren Kiefern, wenige Zypressen die sich schlank in den Himmel strecken, dorniges Gestrüpp, dunkles Grün. Um ihn herum der Geruch nach trockenem Kiefernwald, Harz, Hitze, Salz und Meer. Überall summt es, Grillen zirpen, springen vor ihm zur Seite, Gestrüpp streift seine nackten Beine und bricht leise knackend weg.  Langsam hört er auch das Geräusch des Wassers, ruhig, gleichmäßig, hin und wieder an die Felsen und Steine platschend, gurgelnd. Durch den lichten Tamarix sieht er nun auch das Meer. Zerklüftete rötlich schimmernd Felsen und nasse, blanke Steine, dahinter das fast unglaubliche Blau des Wassers. Eine alte Plastikflasche die immer wieder an einen Stein gespült wird, machte ein eigenartig fremdes Geräusch, treibt wieder etwas aufs Meer hinaus und wird mit der nächsten Welle wieder an den Stein gedrückt. Auf dem blauen Wasser kleine weiße Schaumgriesel, glitzernd spielendes Sonnenlicht; weit draußen ein leise tuckerndes Boot.

 

Er geht weiter, sieht jetzt im flirrenden Licht die Bucht vor sich, das kleine geduckte Dorf, den leeren Strand vorm Hotel, den Platz vor dem kleinen Hafen, die Häuser, den Kirchturm. Dahinter die hoch aufsteigenden Berge durchzogen von kleinen, grauen Steinmauern, dazwischen silbrig-grün glänzende Olivenbäume und heller Felsen. Ganz oben die Zisterne, darauf in roter Schrift verwaschen: TITO. Er geht am Hotel vorbei, ein typischer 70er Jahre Flachbau, 2 Ebenen, offene Terrassen, Speisesaal mit roten, sonnengebleichten Markisen, fernes Geschirrgeklapper. Warme Steinstufen, abblätterndes Weiß, üppiger blühender Oleander, ein wenig Schatten jetzt auf der kleinen Steinmauer. Links das Meer und die aufgeschütteten Betonflächen zum Sonnen, zwei klapprige Leitern, metallisch quietschend die direkt ins tiefe Wasser führen; ein paar rostige Ringe, im Boden eingelassen um Boote daran festzumachen. In den Vertiefungen steht glänzendes Wasser.

 

Weiter den geschwungenen Weg direkt am Wasser lang, wieder Steinmauern in der Sonne, blühende Bodendecker, überall Oleander in rosa und weiß, süßer Duft. Hier und da huscht etwas, aufgescheucht durch seine Schritte, braune kleine Echsen, eine Maus. Schmetterlinge sitzen im Oleander, das dauerhafte Summen der Zikaden begleitet ihn. Den Weg entlang, der  sich jetzt ein wenig vom Wasser weg entfernt, links verdörrtes Gras, dazwischen Steine und Boote. Manche mit dem Bug nach oben liegend, frisch gestrichenes Holz, Farbeimer, alte Lappen; eine Bierkiste, umgedreht mit einer alten Decke als Sitzkissen darauf, eine träg umherstreifende Katze, Geruch nach Farbe, Lösungsmittel und Teer. Unter den knochigen Olivenbäumen zwei alte Männer, braun gegerbte Haut, schütteres Haar, rauchend auf einem Stapel Holzkisten sitzend.

 

Er geht weiter zum großen Anleger für die tägliche Fähre: Stapel mit leeren Getränkekisten in rot und gelb, große leere weiße Wassercontainer mit blauen Plastikdeckeln, eine struppige braune Katze döst im Schatten. Zigarettenkippen und Papierschnipsel auf dem Boden, eine kleine blaue Bretterbude, ein ausgeblichener  Fahrplan hinter der matten Scheibe, zwei Plastikstühle.

 

Er geht weiter Richtung Dorfplatz, Kinderlachen von weitem, rechts das Haus vom Arzt. Eine alte Villa in verwelktem Rosa, der verwildertet Vorgarten hinter einer niedrigen Mauer, neben der Tür eine große Palme, grünen Wedel die bis auf den Weg reichen, an der Seite ein paar alte Weinstöcke. Auf dem Dorfplatz ein Brunnen in der Mitte, aus der oberen Schale plätschert wenig Wasser in das untere Becken. Um den Brunnen feuchter Boden mit ein paar Pfützen, Kinder spielen barfuss. Zwei alte Frauen, ganz in schwarz, sitzen auf einer Bank, Häkelzeug auf dem Schoß, ein älterer Mann graue, Hose, graues Hemd, graue Hosenträger schiebt gemächlich einen Holzkarren über den Platz. Die Häuser im Halbkreis in sonnengebleichten Farben, abgeblättert, die Fensterläden zu, es ist heiß. Irgendwo läuft leise ein Radio.

 

Er dreht sich langsam um und schaut über den kleinen Fischerhafen und auf das blaue, funkelnde, ruhige Meer in der Bucht. Die Boote schaukeln im trüben Hafenwasser, Netze an Deck, Blecheimer, Holzkisten, Werkzeuge. Er setzt sich auf die kleine Mauer, Hafengeruch: eine Mischung aus Fisch, Salzwasser und Diesel steigt ihm in die Nase, auf der Wasseroberfläche schillernde Ölkreise.

 

Hierbleiben. Einfach hierbleiben

Gesine Wenzel, 2009

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